Dienstag, 23. Oktober 2018

Warum nutzen wir Wikipedia nicht in der Vorlesung?

In 2007 veröffentlichte Neil Walters den Text "why you can't cite Wikipedia in my class". Er bemerkte, dass in vielen Seminararbeiten, die bei ihm abgegeben wurden, keine wissenschaftlichen Quellen mehr angegeben wurden. Stattdessen verwendeten die Studierenden Verweise auf Wikipedia Artikel. Diese Praxis ärgert natürlich die normalen Wissenschaftler, denn die eigenen wissenschaftlichen Artikel , die ja häufig die Basis für die Lehrveranstaltung sind, werden dadurch ignoriert.

Das Problem ist jedoch nicht die verletzte Eitelkeit der Dozenten, es ist die wechselnde Qualität der Wikipedia Artikel. Einige Wikipedia Artikel haben eine unglaubliche Qualität -- sie lassen keine Frage offen, sind didaktisch gut strukturiert und machen Lust, über den Betrachtungsgegenstand noch mehr zu erfahren und dafür den Links zu folgen. Bei vielen Artikeln ist das nicht der Fall -- wer mehr wissen will, wechselt besser auf die englische Version. Manche Artikel sind gut recherchiert und belegt, manche nicht. Die Wikipedia Community sorgt dann dafür, dass der Mangel mit einem Hinweis angezeigt wird. Irgendwann wird sich jemand (ein Editor) des Artikels annehmen und ihn verändern: Belege anführen, Links einfügen, Fakten checken. Der Artikel wird damit dynamisch verbessert.

Dieses dynamische ist aber das zweite Problem. Wenn ich die Seminararbeit benoten will, gehe ich davon aus, dass der Studierende die gleiche Quelle gelesen hat wie ich jetzt. Diese Fakten standen ihr doch zur Verfügung? Woher kommen diese Zahlen? Es kann sein, dass die Quelle zum Zeitpunkt des Verfassens anders aussah las beim nochmaligen Lesen. Worauf kann ich mich verlassen?

Das Problem ist: es gibt viel zu wenige Wissenschaftler, die Wikipedia-Artikel schreiben. Niemand bekommt eine Professur, weil er oder sie die Qualität von Texten überprüft und verbessert. Nirgends wird ausgewiesen, wie viel Anteil der Reviewer an der Lesbarkeit und Verständlichkeit eines wissenschaftlichen Artikels hat (manchmal: sehr viel!). Und niemals habe ich in Bewerbungen für Professuren gesehen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler angeben, wie viele und welche Wikipedia-Artikel aus ihrer Feder stammen.

Dabei wäre es dort doch so einfach. Nachgewiesenes und geprüftes Wissen weiterzugeben, ist nirgendwo so einfach und erreicht so viele Menschen wie in einer Online-Enzyklopädie. Wollen wir diesen Textraum den Trollen und Meinungsmachern überlassen? Wir Hochschulen ziehen eigentlich mit Wikipedia an einem Strang -- wir müssten es nur umsetzen. Mehr Open Access geht nicht. Dann könnten wir auch zertifizierte Artikel in unseren Vorlesungen und Seminararbeiten zitieren.

Die post-digitale Universität

Digitalisierung ist ein Begriff, der einen Verlauf beschreibt. So wie Bewegung oder Veränderung.

Es beginnt bei einem Istzustand, von dem aus man bewegt, verändert oder digitalisiert, und endet hoffentlich bei einem erwünschten Sollzustand. Man bewegt sich -- von Zuhause zur Arbeit, von A nach B, von einer alten Position weg. Man verändert etwas -- die Möbel vom Wand zum Fenster, die eigene Haltung zum Sport, die Inhalte einer alten Vorlesung. (Man digitalisiert -- sich? etwas?)

Wir digitalisieren eine Universität.

Es gibt (oder gab) also einen nicht-digitalen Ist-Zustand, der als alt, unflexibel, aufwändig, nicht effizient und nicht effektiv angesehen wird. Digitalisierung ist der Prozess, der uns von diesem Zustand wegführt. Manchmal in gerader Linie, sehr häufig schlängelnd, vor und zurück, insgesamt aber nach vorne, in die Zukunft. Irgendwann (?) erreichen wir den zu Anfang gewünschten Zustand -- digital diejenigen Prozesse, die wir wollen; nicht digital, vieles andere (z.B. Lehre mit echten Menschen auf einem echten Campus).

Und dann?

Nehmen wir einmal an, wir haben alles. Forschungsdatenmanagement als Rückgrat für unsere Forscherinnen und Forscher: von elektronischen Laborbüchern über Datenrepositorien zu Open Access Journalen. Digitale Lehre in ganzer Schönheit: Flipped Classroom, MOOCs, Learning Analytics, funktionierendes Campus Management. Was werden die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, was die Dozentinnen und Dozenten damit anfangen? Wird alles anders?

Wer forscht, möchte eigentlich in Ruhe gelassen werden und sich darauf konzentrieren. Im Humboldtschen Sinne möchte man gleichzeitig in der Lehre mit Studierenden diskutieren, sie einladen in seine eigene Wissenschaftswelt und sie dadurch teilhaben lassen. Ihre Kreativität und Neugier soll die eigene Leidenschaft befruchten, ein Funke soll überspringen und die nächste Generation an die Wissenschaft heranführen. So macht Wissenschaft in Forschung und Lehre Spaß.

Das galt vor der Digitalisierung und nach der Digitalisierung immer noch. Informationstechnologie (Tools, Apps) ist kein Selbstzweck und wird dort am besten angenommen, wo sie im Hintergrund, ruhig und störungsfrei läuft. Manchmal vergessen wir das und schauen zu sehr auf die Technologie -- derzeitiger Hype: die Einbindung von Blockchain. Die post-digitale Universität wird sich dadurch auszeichnen, dass sie als Plattform, Backbone, Infrastruktur funktioniert, so wie Strom und Telefon.

Das heißt aber auch, dass wir jetzt anfangen müssen, Strategien für die post-digitale Universität zu entwickeln, die Technologien als gegeben, präsent und verfügbar annimmt. Und sich dann überlegt: wie soll meine Universität im Jahr 2030 aussehen?

Montag, 20. August 2018

Ist deutsche Universitätslehre Robot-Proof? (Teil 2)

In diesem Post möchte ich mich den Capacities aus dem Buch "Robot-Proof" von Aoun widmen. Im ersten Post zu diesem Thema habe ich das Buch vorgestellt und versucht, die Literacies auf die deutsche Universitätsrealität anzupassen. Die Literacies sind für mich im Bachelorstudium zu verorten, am besten in Form eines Studium Generale.

Die Capacities hingegen sind spezieller: Critical Thinking, Systems Thinking, Entrepreneurship und Cultural Agility. Jedes Thema für sich könnte schon das Fundament für einen eigenen Masterstudiengang sein, aber Aoun plädiert für das Einbauen in bestehende Studienprogramme (Für Deutschland übersetzt wahrscheinlich ein Teil eines Masterstudiums, in den USA in den letzten beiden Jahren eines vierjährigen Bachelorprogramms). 

Kritisches Denken ist sicherlich ein Denken "out of the box", wozu kritisches Hinterfragen von Ideen gehört und die Fähigkeit, Fakten und Behauptungen voneinander zu unterscheiden. Schlußfolgerungen "in the box" zu ziehen, könnte tatsächlich von Künstlicher Intelligenz bewerkstelligt werden und wäre damit nicht Robot-Proof. Dass "Kritisches Denken" derzeit kein Kernelement von Bildung ist, nutzen viele Populisten in selbstdarstellender Weise für sich aus, wenn sie ihr Stimmvieh bedienen. Wie umsetzen: in universitärer Ausbildung sicherlich durch Kurse in Wissenschaftstheorie und Ethik als verpflichtender Teil eines Masterprogramms.

Systemisches Denken schaut über den Tellerrand hinaus und würden wir meist als Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität übersetzen wollen. Der Begriff selber ist aber etwas in die Jahre gekommen und mir fällt es schwer, konkrete Lehrveranstaltungen damit zu verbinden; Fallstudien mit gemischten Studierenden wäre ein Ansatz innerhalb von Curricula. Interdisziplinäre Masterstudiengänge wie Wirtschaftsingenieurwesen, Philosophy & Economics, Sporttechnologie usw. sind in deutschen Universitäten mittlerweile weit verbreitet. Da ist in den USA vermutlich mehr zu machen als bei uns.

Entrepreneurship ist für mich ein Kernelement eines Masterstudiums, unabhängig von der Wissenschaftsdisziplin. Wir haben daher selber in Bayreuth ein Projekt namens "Entrepreneurship4All" aufgesetzt, in dem unternehmerisches Handeln für viele Wissenschaftsbereiche angepasst und umgesetzt wird. Auch die Unternehmenspraktika, die viele Studierende sogar freiwillig machen, verbessern und vertiefen diese Fähigkeiten.

Kulturelle Agilität wird viel gefordert, praktisch umgesetzt wird es bei uns neben Kursen auf dem Campus sehr häufig in Auslandssemestern. Bei meinen BWL-Absolventen sehe ich meist 2 Auslandsaufenthalte auf dem Zettel, fast immer in unterschiedlichen Ländern. Dafür muss es im Studienverlauf Mobilitätsfenster geben, die schlauen Unis haben das aber fast alle.

Fazit: Aoun hat ein wichtiges Thema aufgesetzt: die Umsetzung ist in den USA noch dringender als bei uns. Auch für deutsche Unis ist das Buch aber ein sehr guter Motivationsverstärker, auf dem eingeschlagenen Weg nicht lockerzulassen.

Ist deutsche Universitätslehre Robot-Proof? (Teil 1)

Ich habe im Urlaub gerade ein Buch eines amerikanischen Universitätspräsidenten über die Zukunft der Hochschulbildung gelesen (danke an Christian Germelmann für den Link!). Joseph E. Aoun ist Präsident der Northeastern University in Boston, das Buch heisst "Robot-Proof" (daher auch der Titel dieses Posts) und ist bei MIT Press erschienen. Das Buch ist quasi die Langversion mehrerer Artikel, z.B. in der Washington Post vom Oktober 2016 und im Chronicle of Higher Education vom Januar 2016.

Aoun schreibt über die Notwendigkeit, Studierende so auszubilden, dass ihre Berufsprofile möglichst nicht von einer Künstlichen Intelligenz übernommen werden können. In dem Buch stellt er einige Beispiele für Aktivitäten seiner eigenen Universität vor. Er strukturiert in Literacies (im Bologna-Sprech für uns vielleicht: Kenntnisse) und Cognitive Capacities (Fähigkeiten).

Literacies sind Technological Literacy, Data Literacy und Human Literacy. Diese sind in jedem Studiengang zu verorten und stellen fundamentales Wissen dar, ohne welches man im zukünftigen Berufsleben nicht mehr weiterkommt. Technological und Data Literacy sind für ihn zwei verschiedene Dinge, Technological ist eher Programmierung und Data ist der Umgang mit Datenmengen aus einer Anwenderperspektive. Human Literacy beschäftigt sich mit Interkulturalität und Diversität, was wohl in den USA noch mehr zu kurz kommt als bei uns. Für mich sind Literacies damit gedanklicher Teil einer Studium Generale-artigen Struktur im Bachelorstudium. In Deutschland am Weitesten ist hier wohl die Lehrstruktur des Komplementärstudiums am College der Universität Lüneburg.

Konkret müssten (1) Programmier- und Software Engineering-Kenntnisse übergreifend durch spezielles Lehrpersonal des Mittelbaues angeboten werden, vielleicht in Erweiterung bestehender Angebote aus einer Informatik heraus. Das kann relativ allgemein geschehen. Bei (2) Data Literacy müssten je nach Wissenschaftsdisziplin spezifischere Angebote gemacht werden, Labordaten der Naturwissenschaften, Simulationen in den Ingenieurwissenschaften, Umfragen in den Wirtschaftswissenschaften und Interviews in den Sozialwissenschaften etc. sind doch spezifisch. Für (3) Human Literacy könnten all jene Kurse zusammengefaßt werden, die an Universitäten im Bereich Gender, Diversität, Interkulturalität meist ohnehin schon existieren.

Die Capacities sind Critical Thinking, Systems Thinking, Entrepreneurship und Cultural Agility. Jedes Thema für sich könnte schon das Fundament für einen eigenen Masterstudiengang sein, aber Aoun plädiert für das Einbauen in bestehende Studienprogramme (Für Deutschland übersetzt wahrscheinlich ein Teil eines Masterstudiums, in den USA in den letzten beiden Jahren eines vierjährigen Bachelorprogramms). Mehr dazu im zweiten Teil.