In diesem etwas längeren Beitrag möchte ich gerne darstellen, wo wir nach der Pandemie stehen, was wir erreicht haben, und was nach der Absage des Digitalpakts dennoch die nächsten Schritte sein müssten. Ich vertrete hier wieder einmal die Sicht eines CIO einer Hochschule, d.h. stelle nicht das Lernen in den Vordergrund, sondern die Leistungsfähigkeit und Digitalstrategie der Hochschule insgesamt.
Wo stehen die deutschen Hochschulen bei der Digitalisierung und welches Ziel ist aus meiner Sicht perspektivisch anzustreben?
Die Hochschulen haben ausgelöst durch die Corona-Pandemie im Bereich der Digitalisierung von Lehrveranstaltungen einen großen Sprung nach vorne gemacht. Lehrende stehen der Erstellung digitaler oder hybrider Lehrangeboten aufgeschlossener gegenüber, Flipped Classroom oder Fernprüfungen wurden zumindest testweise eingeführt. Die meisten Studierenden finden diese Angebote gut und fragen sie auch nach Corona aktiv nach, als Zusatzangebot oder sogar Ersatz von Präsenzalternativen.
Weiterhin wurden, um den Universitätsbeschäftigten die Arbeit aus dem Home Office zu ermöglichen, viele, aber nicht alle Prozesse digitalisiert. Videokonferenzen, Dokumentenmanagement, Formularserver und VPN-Verbindungen erlauben als technische Möglichkeiten, Personal- und Finanzprozesse auch im Verwaltungsbereich sicher abzuwickeln. Auch hier entsteht nach Corona eine Erwartungshaltung, diese neue Arbeitsumgebung beizubehalten und weiter auszubauen.
Diese Entwicklung ist nicht anders zu betrachten als in anderen Branchen: Nutzer, Kunden, Bürger sind mittlerweile an digitale Dienste gewöhnt, die am besten 24/7/365 verfügbar sind. Ziel muss es daher für die Hochschulen sein, die verfügbaren Personal- und Technikressourcen den neuen Anforderungen anzupassen -- diese sind nämlich während der Pandemie nicht mitgewachsen.
Was sind aus meiner Sicht die wesentlichen Herausforderungen und Hemmnisse, denen die deutschen Hochschulen ganz aktuell im Zuge der Digitalisierung gegenüberstehen?
Die gestiegenen Erwartungen der IT-Nutzer der Hochschulen an die Universitäten treffen auf eine unveränderte Personallage in den Rechenzentren und eine ebensolche Finanzsituation. Während der Corona-Pandemie sind digitale Dienste hinzugekommen, Hardware (Videoserver) erweitert und Softwarelizenzen (Zoom, MS365 Campuslizenzen) in großen Zahlen beschafft worden. Die daraus resultierenden zusätzlichen Aufgaben sind in den Rechenzentren mit hohem Aufwand ad hoc bewältigt worden; nach der Pandemie werden Server und Lizenzen aber dauerhaft weiterbetrieben.Was als Projekt gestartet ist, geht in den Normalbetrieb über und benötigt dauerhafte Unterstützung. Und neue Anforderungen stehen bereits vor der Tür: Analysebasierte Lernsteuerung (Student Success /Relationship Management, Learning Analytics), nationale Anbindung an NFDI und OZG-Verfahren, internationale Anbindung z.B. an EMREX. Die Förderprogramme z.B. für mehr KI-Professuren erzeugen mehr Ressourcenbedarf für Digitalisierung im Forschungsbereich (High Performance Computing). Dies sind keine einmaligen Projekte, sondern auf Dauer angelegte Fachverfahren, die von den Hochschulen auch betreut werden müssen.
Gleichzeitig hemmen gewachsene Strukturen eine größere Arbeitsteilung untereinander. Fast jede Hochschule betreibt ein eigenes Rechenzentrum. Die qualitativen Anforderungen an die dortigen Stellen sind jedoch stark gewachsen. Die Aufgaben verändern sich vom reinen IT-Betrieb hin zur inhaltlichen Unterstützung der Anwender in Lehre und Forschung. Mit zunehmender Nutzung von Cloud-Diensten fällt der eigene IT-Betrieb sogar teilweise weg, das Rechenzentrum wandelt sich zum IT-Servicezentrum. Diese Entwicklung ist eigentlich positiv, denn der Betrieb eigener Mail-, Web- oder Moodle-Server „on premise“ stellt für die Hochschulen keinen Wettbewerbsvorteil mehr dar – im Gegenteil werden Ressourcen gebunden, die besser und individueller den Nutzern der Hochschule zugutekommen könnten. Diese allgemeinen Dienste könnten durch einen gemeinsamen IT-Betrieb mehrerer Hochschulen (Private Cloud) in digitaler Souveränität erbracht werden; länderweise Organisation bietet sich an. Derzeit gibt es aber für eine standortübergreifende Kooperation mit anderen Hochschulen aus Sicht der einzelnen Hochschule keinen ökonomischen Grund, da der Bezug von IT-Dienstleistungen als umsatzsteuerpflichtig angesehen werden kann, die Beschaffung eigener Hardware hingegen mit 50% von der DFG bezuschusst wird.
Welche Hebel und Stellschrauben sehe ich, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Zum Ersten muss es durch ökonomische und steuerliche Anreize gelingen, dass die Zusammenarbeit der Hochschulen in Hochschulkooperationen bzw. Digitalverbünden attraktiver gestaltet wird als ein Alleingang. Dazu gehört eine Betonung
- von lokalen Implementierungs- und Schnittstellenprojekten, die Hochschulen an nationale und internationale Datendrehscheiben anbinden: NFDI, OZG, EMREX. Diese müssen die spezielle Situation und die Anwendungssysteme jeder Hochschule betrachten. Auch wenn große Systeme wie HISinOne in der ihnen eigenen Entwicklungsgeschwindigkeit Schnittstellen entwickeln, so ist die konkrete Umsetzung vor Ort je nach Anwendungsportfolio unterschiedlich aufwendig oder dringend. Für diese lokale Anpassung fehlen häufig Ressourcen.
- der Schaffung gemeinsamer Servicestellen, welche die Hochschulen operativ (!) entlasten. Beispiele sind Rechtsberatung (Lizenzrecht, Datenschutzrecht, gemeinsame rechtliche Vertretung ggü. Lizenzgebern usw.), IT-Einkauf (Bewirtschaftung von Rahmenverträgen bis hin zur Anbindung an Einkaufssysteme der einzelnen Hochschule) oder IT-Sicherheit (Security Operations Center, Critical Emergency Response Team). Diese Servicestellen können länderspezifisch, aber auch länderübergreifend wirken.
Zum Zweiten entsteht durch die Förderung vieler digitaler Lehrprojekte (von StIL, BMBF usw.) ein Bedarf nach nachhaltiger Unterstützung derer technischer Implementierung. Das ist wiederum spezifisch für die einzelne Hochschule und wird zu einer dauerhaften Aufgabe im IT-Servicezentrum oder einer ähnlichen zentralen Stelle. Während bei den Förderprojekten im Lehrbereich die Didaktik, Konzeption und Durchführung einzelner Lehrveranstaltungen im Vordergrund steht, muss es hier um die Hintergrundaufgaben gehen:
- z.B. eine nachhaltige Einbettung der Lehrprojekte in eine meist hochschulspezifische gesamte technisch-digitale Lehr-, Lern-, Prüfungs- und Lernanalysearchitektur;
- durch Anwendung von Student Success Management und Learning Analytics die datenschutzkonforme Realisierung datenbasierter Erkenntnisse und Interventionen, um z.B. Abbruchquoten zu minimieren.
Wo sehe ich einen besonderen Bedarf für ein hochschul- und länderübergreifend abgestimmtes Vorgehen, etwa zur Erschließung von Synergien, Vereinheitlichung von Schnittstellen oder Etablierung von Standards?
Viele der im vorhergehenden Abschnitt angesprochenen Maßnahmen können bereits durch Förderung innerhalb eines Bundeslandes angestoßen werden. Die Schaffung gemeinsamer Servicestellen wird z.B. im Digitalverbund Bayern durch Förderung des zuständigen Ministeriums realisiert. Für das Landesministerium ermöglicht dies eine gezielte und gebündelte Förderung einzelner Themengebiete, setzt allerdings eine vorherige Abstimmung und betriebliche Kooperation der Hochschulen voraus.
Einige Themen gehen jedoch über Ländergrenzen hinaus und müssen übergreifend, ggf. auch durch Anstoß auf Bundesebene unterstützt werden. Beispiele sind:
- die Unterstützung des Karrierewegs Studierender mit den drei Übergängen: Schule auf Bachelorstudium, Bachelor- auf Masterstudium und Masterstudium auf Erstanstellung (im öffentlichen Dienst, z.B. Lehrer, Juristen). Bei jedem Schritt ist eine Mobilität über Ländergrenzen hinweg möglich. Derzeit sind Medienbrüche hierbei eher die Regel als die Ausnahme, d.h. die strukturierten Daten der einen Seite werden auszugsweise auf der empfangenden Seite wieder manuell eingegeben. Bei den beiden Übergängen „Schule auf Studium“ und „Studium auf Erstanstellung“ sind nicht alleine die Hochschulen gefragt, sondern eine Digitalisierung muss mit anderen Ministeriumsbereichen gemeinsam angegangen werden. Beim Übergang „Bachelor auf Master“ ist das allerdings anders. Hier könnten die Hochschulen von sich aus eine Vereinheitlichung von Schnittstellen anstoßen. Dies ist umso wichtiger, weil wegen Anrechnungsfragen und Eignungsfragen häufig das komplette Bachelorzeugnis strukturiert verarbeitet werden muss. (--> Vereinheitlichung von Schnittstellen)
- Die Unterstützungsmodalitäten von IT-Beschaffungen aus Bundesmitteln, was die DFG mit einschließt. Solange die Abrechnungsmodalitäten der einzelnen Hochschule eine Betrachtungsweise ermöglichen, welche eine isolierte Beschaffung austauschbarer IT-Standard-Hardware wie z.B. Mailserver günstiger zu stellen scheint als die Beschaffung von Diensten über eine Private oder Public Cloud, werden keine Kooperationsgewinne gehoben werden können. Die Logik, dass durch Bundes- oder Länderförderung der Kauf einer Mailserver-Hardware zu 50% bezuschusst wird, der Bezug von Maildiensten aus der Cloud aber mit 19% Umsatzsteuer belegt wird, führt isoliert betrachtet immer zur Beschaffung eigener Hardware; mit der daraus folgenden Notwendigkeit eigener Rechenräume, lokalem IT-Betriebspersonal, lokaler IT-Sicherheit und dem Ruf nach Ersatzinvestition nach wenigen Jahren. Die Unterstützungsmodalitäten müssen so geebnet sein, dass eine Entscheidung über „Make or Buy“ bezüglich IT-Dienstleistungen allein nach dem strategischen Interesse oder den operativen Ressourcenfähigkeiten der jeweiligen Hochschule getroffen werden kann. (--> Etablierung von Standards)
- Private Clouds im Sinne des vorherigen Absatzes können auch von Hochschulen oder Verbünden betrieben werden, nicht nur von kommerziellen Anbietern. Wenn in diesem Fall (IT-) Leistungen zwischen Hochschulen geteilt werden, gelten derzeit bundesrechtliche Vorgaben z.B. im Finanzbereich (Umsatzsteuerpflicht). Innerhalb eines Bundeslandes kann man die gegenseitige Leistungserbringung vielleicht als staatliche Aufgabe begreifen. Es müsste aber auch möglich sein, dass diese Leistungserbringung ländergrenzenübergreifend passieren kann. Ggf. erfordert das eine Änderung von Bundesgesetzgebung. (--> Etablierung von Standards)
- Die Analyse von Lerndaten erfordert schließlich eine Betrachtung und Auslegung der Datenschutzregeln, die am besten föderal harmonisiert erfolgen sollte. In einigen Bundesländern definiert das Hochschulgesetz, welche Daten zweckgebunden von den Studierenden erhoben werden sollen, um den Zweck der besseren Förderung des Studienerfolgs zu erfüllen. In verschiedenen Bundesländern gibt es jedoch verschiedene Auslegungen der zuständigen Datenschutzaufsicht, was mit diesen Daten angestellt werden darf. Hier sollte eine bundesweite Diskussion bessere Erkenntnisse liefern als sechzehn isolierte Diskussionen. (--> Erschließung von Synergien)
Fazit
Mit den Initiativen zur digitalen Lehre (vgl. Stiftung Innovation in der Hochschullehre) und digitalen Forschungsdaten (vgl. Nationale Forschungsdateninfrastruktur) hat Deutschland im Frontend an der Schnittstelle zu den Lehrenden und Forschenden bereits große Fortschritte und auch gute Erfahrungen gemacht. Was wir jetzt aufbauen müssen, ist das Backend, welches diese Initiativen auf Dauer auch am Laufen halten kann. Hier habe ich, hoffe ich, ein paar Vorschläge gemacht.